DEN
MEEREN GLAUBEN
von Martin Leidenfrost
Illustration: Rainer-Erich Scheichelbauer |
Die
Natur hat keine nennenswerten Wasserflächen auf Böhmen,
Mähren und die Slowakei gestreut, und dennoch grüßen
sich Tschechen und Slowaken munter mit Ahoj. Es war nicht
Gott, es waren die tschechoslowakischen Kommunisten, die dem
Binnenland Meere schufen. Eine Seefahrt zwischen Böhmerwald
und Karpaten.
»Bist du gewiss, dass unser Schiff die Wüsten Böhmens
angelaufen hat?“, fragt der Edelmann Antigonus in Shakespeares
Wintermärchen. „Ja, Herr“, antwortet sein
Seemann. Schauplatz der Szene: Böhmen, eine wüste
Gegend am Meer.
Shakespeare, der Geographie nie sonderlich genau genommen
hat, hatte unbekümmert die Angaben einer belletristischen
Quelle übernommen, die Böhmen als wellenumspülte
Insel beschreibt. Vielleicht ein Versehen, nicht weiter tragisch,
zumal es Ingeborg Bachmann zu einem ihrer schönsten Gedichte
angeregt hat, Böhmen liegt am Meer.
Böhmen liegt nicht am Meer, und dennoch tönt einem
aus tausend Kehlen ahoj entgegen, sobald man seinen Fuß
aufs böhmische Eiland setzt. Suchen die fernab der Küsten
siedelnden Stämme Shakespeare posthum ins Recht zu setzen?
Drückt sich im Gruß ahoj die Sehnsucht eines von
Gebirgen eingeschlossenen Volkes nach Seefahrt, nach der Weite
und Unbegrenztheit der Meere aus? Oder handelt es sich um
einen bloßen Zufall, um eine kuriose Laune der tschechischen
Sprache? |
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